E-Collecting — die vermeintlich einfache digitalisierung der Volksrechte

Sandro Scalco
7 min readJun 12, 2022

Beitrag zum 111-jährigen Bestehen des SBV / Podiumsdiskussion 11.06.2022:

https://www.sbv-fsa.ch/jubilaeum

Wahrnehmung der politischen Rechte von Menschen mit Sehbehinderung

Bern, 31. Mai 2022. Menschen mit starker Sehbeeinträchtigung können ihre politischen Rechte nicht autonom wahrnehmen. Am 11. Juni 2022 wird an einem Podium des Schweizerischen Blinden- und Sehbehindertenverbandes SBV über die Hürden und Möglichkeiten bei der Wahrnehmung der politischen Rechte diskutiert.

Blinde und sehbehinderte Schweizerinnen und Schweizer können ihr Stimm- und Wahlrecht nicht autonom wahrnehmen. Dadurch, dass weiterhin nur das handschriftliche Ausfüllen von Stimm- und Wahlzetteln erlaubt ist, können Menschen mit Sehbehinderung nicht selbstbestimmt an Abstimmungen und Wahlen teilnehmen, sondern nur mit Hilfe einer Assistenzperson. Dies widerspricht Art. 5, Abs. 7 des Bundesgesetzes über die politischen Rechte (BPR), wonach das Stimmgeheimnis zu wahren ist. Auch das Unterschreiben von Initiativen, Referenden und Petitionen ist ihnen nicht möglich, solange keine elektronische Lösung dafür zugelassen ist.

Podium anlässlich des 111-Jahr-Jubiläums des SBV

Im Vorfeld der Delegiertenversammlung des SBV vom 11. Juni 2022 und anlässlich des Jubiläums 111 Jahre SBV findet ein Podium statt, an dem über die Hürden und Möglichkeiten von Menschen mit Sehbeeinträchtigung bei der Wahrnehmung ihrer politischen Rechte diskutiert wird. Wir laden Sie herzlich ein, dabei zu sein und über dieses aktuelle Thema zu berichten.

Teilnehmende:

  • Lars Bosselmann, Direktor Europäische Blindenunion EBU
  • Georg Mattmüller, Geschäftsführer Behindertenforum Basel, Motionär Behindertengleichstellungsgesetz Basel
  • Sandro Scalco, Initiant E-Collecting Schaffhausen
  • Beat Kuoni, Jurist Bundeskanzlei Sektion Politische Rechte
  • Luana Schena, Mitglied Verbandsvorstand SBV

Datum : Samstag 11. Juni 2022, 10.00–11.45 Uhr

Ort : Hotel Bern, Zeughausgasse 9, 3011 Bern

Über 375'000 sehbehinderte und blinde Menschen in der Schweiz

In der Schweiz leben über 375'000 (Tendenz steigend) Personen mit einer Sehbehinderung. Der Schweizerische Blinden- und Sehbehindertenverband (SBV) ist die nationale Selbsthilfeorganisation zum Thema Sehbehinderung. Er unterstützt seit 1911 Personen mit Sehbeeinträchtigung in ihrem Bestreben, ein unabhängiges und erfolgreiches Leben im Beruf und in der Gesellschaft zu führen. Dieses Ziel erreicht der SBV mit Beratung, Schulung sowie mit Aufklärung und Sensibilisierung der Öffentlichkeit. Weitere Informationen unter sbv-fsa.ch.

Mein Beitrag

Sehr geehrte Delegierte, sehr geehrter Vorstand und sehr geehrte Anwesende

Herzlichen Dank für die Einladung!

Ich freue mich sehr, dass ich heute bei Ihnen aus der Sicht eines Schaffhausers zum Thema „E-Collecting — die vermeintlich einfache Digitalisierung der Volksrechte“ referieren darf. Ich möchte sie auf meine persönliche Reise mitnehmen und Ihnen dabei das elektronische Sammeln von Volksbegehren, dem sogenannten E-Collecting etwas näherbringen:

Hinter dem elektronischen Sammeln von Unterschriften für Volksbegehren wie Initiativen & Referenden, dem sogenannten E-Collecting, steckt nämlich mehr als man im ersten Moment annimmt. Der Bundesrat definiert in einem Bericht folgende vier Abläufe, welchen den gesamten Prozess von E-Collecting abdeckt:

1. das elektronische Unterschreiben durch Stimmberechtigte
(das war wir im Allgemeinen unter dem Sammeln von Unterschriften aus der Sicht der Bürger:innen mitbekommen)

2. das elektronische Sammeln durch Komitees

3. das elektronische Prüfen der Gültigkeit von Unterschriften durch Bescheinigungsstellen

4. das elektronische Zählen von bescheinigten Unterschriften durch die Bundeskanzlei.

Wenn man sich diese Definition so anhört, wurde bei E-Collecting einfach jeweils das Wort “elektronisch” vorangeführt und es wurde am bestehenden Prozess festgehalten. Das ist in diesem Umfeld auch nicht weiter erstaunlich, da man sich ja an den bestehenden gesetzlichen Grundlagen orientieren muss, welche nicht dafür bekannt sind, dass man viel Spielraum bei der Umsetzung hat. Zudem ist hier auch noch zu erwähnen, dass mit Bürgerinnen und Bürgern, Sammelkomitees, Gemeinden und je nach Volksbegehren die Gemeinde/Stadt, der Kanton oder zusätzlich der Bund viele verschiedene Akteure involviert sind. Auch dieser Umstand ist nicht gerade ein Wunschszenario, wenn man etwas verändern möchte.

Im Zusammenhang mit E-Collecting spreche ich von einer “Digitalisierung der Volksrechte” und nicht von einer sogenannten “Digitalen Transformation”. Von einer Digitalisierung spricht man, wenn man bestehende Prozesse in eine elektronische Form bringt. Eine digitale Transformation ist, wenn man dank neuen Technologien neue Prozesse und Dinge entwickeln kann. Dafür bräuchte es aber entweder neue Formen der Volksrechte oder eine Anpassung der bestehenden Gesetze. Beides ist jedoch innerhalb einer nützlichen Frist nicht absehbar.

Eine Art Transformation haben wir aber vor einiger Zeit schon einmal erlebt. Ich möchte daher einen kleinen Schritt zurück in der Geschichte gehen. Etwa dorthin, wo führende Technologien nicht etwa Smartphones, künstliche Intelligenzen oder die Blockchain, sondern die moderne Druckpresse, die Eisenbahn und der Telegraf waren.

Im Jahr 1848 fand in Schaffhausen die erste Abstimmung zur Bundesverfassung vom 12. September 1848 statt und es wurde das Fundament des Schweizer Rechtssystems gelegt. Von nun an waren die Aufgaben von Bund, Kanton und Gemeinden und die Rechte und Pflichten der Schweizer Bürger in einer Verfassung geregelt.

Doch wie kam es dazu? Wir hatten damals die Technologien und Dienstleistungen zur Verfügung, welche uns kostengünstigere und regelmässige Abstimmungen ermöglichten. Zudem konnten wir Druckerzeugnisse schnell und in grosser Menge produzieren und diese dank der Eisenbahn schnell und günstig von A nach B transportieren. 21 Jahre später (1869) wurde im Kanton Zürich der Grundstein für das direktdemokratische System gelegt, indem die Kantonsverfassung mit dem Gesetzesreferendum und dem Initiativrecht erweitert wurde. Das Gesetzesreferendum wurde anschliessend (1874) in die Schweizerische Bundesverfassung aufgenommen und (1891) mit dem Initiativrecht ergänzt. In den Grundzügen hat sich, was die Demokratie in der Schweiz betrifft, abgesehen vom Frauenstimmrecht natürlich, seit etwa 150 Jahren nicht mehr viel verändert. Die Initiative ist 131 und das Referendum 148 Jahre alt.

Seit damals hat sich die Gesellschaft und die Schweiz jedoch stark verändert. Ein Treiber dieser Veränderung war in den letzten Jahrzehnten bestimmt die Durchdringung des Internets in allen unseren Lebensbereichen und nicht zuletzt auch die aktuell stattfindende Digitalisierung. Neue Technologien ermöglichen es uns, dass wir bestehende Prozesse neugestalten und verbessern oder alte Probleme mit neuen Ansätzen lösen können. Das zeigt zum Beispiel die Entwicklung des Smartphones, welche in den letzten 15 Jahren massiv an Bedeutung gewonnen hat. Das bereits heute schon alte iPhone 6 hatte bereits eine um 120 Millionen Mal bessere Rechenleistung als der Boardcomputer, welcher bei der Mondlandung 1969 verwendet wurde.

Irgendwie unvorstellbar nicht?

Vor über 18 Jahren − im Februar 2002 − hat der Bundesrat die Strategie «Vote électronique» präsentiert. Ihr Ziel ist es, der Schweizer Demokratie den Weg ins 21. Jahrhundert zu ebnen. Warum das E-Collecting, das elektronische Sammeln von Unterschriften, vernachlässigt wurde, lässt sich aus heutiger Sicht nicht nachvollziehen. Schliesslich ist das Sammeln von Unterschriften für Initiativen und Referenden eine der wichtigsten Errungenschaften unserer Demokratie der letzten 150 Jahre. Gleichzeitig haben die Esten im Jahre 2002 mit der Digitalisierung der Verwaltung begonnen, indem sie mit grosser Hilfe aus der Schweiz die elektronische Identität eingeführt hatten.

Seit vier Jahren bietet nun der Kanton Schaffhausen seinen Bürger:innen eine elektronische Identität, ähnlich dem Modell aus Estland auf dem Smartphone an. Die Bürger:innen haben somit die Möglichkeit, diverse Verwaltungsdienstleistungen jederzeit, schnell und effizient zu beziehen. Damit ist Schaffhausen der erste Kanton in der Schweiz mit einer elektronischen Identität und europaweit für die Vorreiterrolle im Bereich der E-ID bekannt.

Von da an habe auch ich mich mit der E-ID auseinandergesetzt. Ich sagte mir damals, es muss doch möglich sein, dass wir die Schaffhauser E-ID und das Prinzip von Wecollect — die wohl grösste Sammelplattform der Schweiz für Initiativen und Referenden im Internet — verbinden können? Dort wird auch für die Inklusionsinitiative von Islam Alijaj gesammelt.

So habe ich mich anfangs 2019 dazu entschieden, eine Masterarbeit zu verfassen. Neben einem Stapel Papier ist aber auch ein Prototyp entstanden, mit dem es möglich ist, Volksbegehren elektronisch zu sammeln, zu unterschreiben, und zu zählen.

Was fehlte, war die gesetzliche Grundlage. Mit der Volksmotion, die vor gut 1 ½ Jahren vom Kantonsparlament gutgeheissen wurde, soll sich dieser Umstand zumindest in Schaffhausen bald ändern. Aber keine Angst, wenn Sie in einem anderen Kanton wohnhaft sind. Auch in den Kantonen Bern, beider Basel, St. Gallen, Zug und Zürich gibt es ähnliche Vorstösse und Aktivitäten in diese Richtung. Auch der Bund ist nicht untätig.

Eines ist sicher: Politik findet heute nicht mehr nur auf der Strasse und an Parteiversammlungen statt, sondern immer mehr auch im virtuellen Raum. Medien werden immer häufiger online konsumiert und auf Social-Media-Kanälen, wie Facebook, Instagram, Twitter und Blogs werden politische Inhalte generiert, kommentiert und geteilt. Wer sich indes aktiv beteiligen und etwa eine Volksinitiative unterzeichnen möchte, muss noch immer zu Papier, Drucker, Kugelschreiber, Kuvert, Briefmarke greifen und zu einem Briefkasten schreiten. Die Schweiz ist sozusagen eine regelrechte Briefkastendemokratie.

Für die Weiterentwicklung der direkten Demokratie, weg von einer Briefkastendemokratie, ist es deshalb umso wichtiger, dass dem elektronischen Sammeln von Unterschriften mehr Beachtung geschenkt wird. Denn E-Collecting senkt nicht nur bestehende Alltagshürden bei der Unterzeichnung von Initiativen und Referenden, sondern erweitert auch den Kreis der Bürger:innen, die sich beteiligen.

Ich bin der Ansicht, dass wir heute wieder an einem solchen Punkt in der Geschichte sind, wo die Technologie eine entscheidende Rolle spielt. Dank dem Smartphone haben wir die Möglichkeit, uns mittels einer elektronischen Identität auszuweisen, elektronisch rechtsgültig Verträge abzuschliessen und eine inklusivere Demokratie für alle anzubieten, welche nicht nur das Sammeln von Unterschriften für Volksbegehren unabhängig von Ort und Zeit — sondern auch ohne Blatt Papier und Kugelschreiber ermöglicht.

Und hier sind wir eigentlich bei der Kernaussage von meinem Referat: Dank dem Smartphone mit seinen digitalen Assistenten und Voiceover Funktion, einer elektronischen Signatur und Identität wäre es auch blinden und sehbehinderten Menschen möglich Volksbegehren zu unterstützen und selbstbestimmt an der Demokratie teilzunehmen.

Also genau das was Civic Tech schlussendlich ausmacht. Nämlich ein wirkungsvoller Einsatz von Technologie für die Menschen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und alles Gute zum Jubiläum sowie ein schönes Wochenende in Bern.

Quellen:
Text aus: Sandro_Medienkonferenz vom Dienstag 3
Weiterer Text (Daniel Graf):
Medienkonferenz vom Dienstag 3. März 2020: Volksmotion: «Mehr Demokratie für Schaffhausen» / E-ID / E-Collecting
Update für die direkte Demokratie: E-Collecting mit staatlicher E-ID im Kanton Schaffhausen | Blog von Daniel Graf
Buch: Scalco_E-Collect

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Sandro Scalco

Founder of @ecollectsh & @StartHub_SH 🚀 @unihockeyclub 👨‍🎓#hwzdigitalmasterclass & #hwzinnovation